20. Mai 2005 // 17.30 Uhr // Kundgebung
Neue Bahnhofstr. 9-17 (nahe S-Bhf. Ostkreuz)
"Für die Entschädigung aller ehemaliger NS-ZwangsarbeiterInnen!"

"Zwangsarbeit in Berlin Friedrichshain
"Wir haben ja von nichts gewusst..." - ein viel verwendeter Satz, wenn es um die Auseinandersetzung mit den Geschehnissen des Nationalsozialismus geht. Dass es aber offensichtlich nicht möglich war von Deportation, Zwangsarbeit, Ausbeutung und dem Terror von Wehrmacht und der SS nichts mitzubekommen, belegen deutlich die Zahlen der 1200 Zwangsarbeiterlager, die sich allein in Berlin befanden. Sie prägten den handwerklichen und industriellen Alltag und waren im gesellschaftlichen Leben unübersehbar.

Im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg gab es nachweislich 800 Orte, an denen Zwangsarbeit geleistet wurde bzw. an denen ZwangsarbeiterInnen untergebracht waren. Im Friedrichshain waren es mindestens 76 Arbeitsstätten und 98 Lager oder Unterkünfte. Nach Berichten von Überlebenden war Berlin von Zwangsarbeitsunterkünften nur so überzogen. Berlin sei ein einziges Lager gewesen, dass sich zwischen "...festen Bauwerken..., Bahnhöfen und Fabriken hinkrümelte". Bei diesen Zwangsarbeiterlagern handelte es sich um kleine Baracken, die zwischen 20 und 200 Personen beherbergten. Lediglich in den Außenbezirken befanden sich größere Brackenlager wie in Alt-Stralau, in der etwa 5000 Menschen Platz fanden.
Nie lebten und arbeiteten in Deutschland so viele Fremde wie in der Zeit von 1943 bis 1945.
Im Sommer 1944 lebten schließlich über 8 Millionen ausländische ZwangsarbeiterInnen, KZ-Häftlinge und Kriegsgefangene aus 20 europäischen Ländern in mehr als 30 000 Lagern. Dennoch zeugen bislang nur wenige Gedenktafeln und Gedenkstätten von diesem Teil der Geschichte. Lange Zeit wurde in der Erinnerungspolitik die Existenz von Zwangsarbeit gänzlich verdrängt, was sich erst in den neunziger Jahren änderte, als das Schicksal der Zwangsbeschäftigten an eine breitere Öffentlichkeit gelangte.
Mit der Kundgebung am 20. Mai in der Neuen Bahnhofstraße soll ein Beitrag geleistet werden verdrängte Geschichte wieder sichtbar zu machen und eine Auseinandersetzung mit den Geschehnissen des Nationalsozialismus anzuregen. Die Rüstungsfirma Knorr Bremse AG, die dort in der Neuen Bahnhofstraße angesiedelt war, steht dabei nur exemplarisch für die unzähligen anderen Stätten nationalsozialistischer Sklavenarbeit.

1938 bis 1945 nationalsozialistische Arbeitskräftebeschaffung
ZwangsarbeiterInnen waren unersetzbarer Betsandteil des deutschen Wirtschaftsprogramms und der deutschen Kriegstaktik auf Grundlage ihrer rassistischen Ideologie. Schon 1938 wurde begonnen tschechische Arbeitskräfte für die deutsche Landwirtschaft zwangs zu verpflichten. Mit dem Beginn des Krieges gegen die Sowjetunion 1941 wurde die Politik der Arbeitskräftebeschaffung forciert. Nach dem Scheitern der "Blitzkrieg"-Strategie nach Kriegsbeginn gegen den Osten, wurde auf einen Abnutzungskrieg umgestellt. Das erzwang ab Herbst 1941 die Umstellung der Rüstungspolitik und die Intensivierung in der Arbeitseinsatzpolitik. Denn alle "wehrfähigen" deutschen Männer waren im Krieg eingesetzt und ein Aufrechterhalten der Arbeitsabläufe und eine Produktionssteigerung in der Rüstungsindustrie konnte nur mit der Zwangsrekrutierung ausländischer Arbeitskräfte gewährleistet werden. Abgesehen von Großunternehmen wurden auch zunehmend in kleineren Handwerksbetrieben und in der Landwirtschaft ZwangsarbeiterInnen eingesetzt. Zugleich mit dem Arbeitseinsatz der sowjetischen Kriegsgefangenen begann die Zwangsrekrutierung von zivilen Arbeitskräften, den sogenannten "Ostarbeitern". Das Jahr 1942 wurde zum Jahr der größten Deportation von Arbeitskräften aus dem Operationsgebiet der deutschen Wehrmacht im Osten: Im Mai wurden 148.000, im Juni 164.000 Menschen für den Arbeitseinsatz im Deutschen Reich "angeworben". Die Bevölkerung in den besetzten Gebieten wurde systematisch zur Arbeit für das Deutsche Reich verpflichtet - die angebliche "Partisanenbekämpfung" wurde zur Sklavenjagd. Der im März 1942 zum "Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz" ernannte Gauleiter von Thüringen, Fritz Sauckel, verstand seine Pflicht so: "Ich habe meinen Auftrag von Adolf Hitler erhalten, und ich werde die Millionen Ostarbeiter nach Deutschland holen, ohne Rücksicht auf ihre Gefühle, ob sie wollen oder nicht." Entsprechend operierten, nach anfänglicher Werbung um Freiwillige, die deutschen Besatzungsbehörden. In Riga fuhr im Juni 1942 zum Beispiel ein Lastwagen an einem Verkehrsknotenpunkt vor, wahllos wurden Menschen auf das Fahrzeug verladen und ins Auffanglager transportiert. Üblich war es auch, Besucher von Kinovorstellungen zu verhaften und zu deportieren. Wenn sich die arbeitsfähige Bevölkerung durch Flucht in die Wälder und zu den Partisanen der Rekrutierung zur Zwangsarbeit entzog, erfolgten drakonische Strafmaßnahmen wie die Beschlagnahme von Getreide, die Brandlegung an Bauernhöfen, Misshandlungen und der Abtransport gefangener Zivilisten in Fesseln zum Arbeitseinsatz im Deutschen Reich.
Zwar wurde die Beschäftigung ausländischer Arbeitskräfte kriegspolitisch notwendig, auf ideologischer Seite war der Einsatz dieser in Deutschland allerdings unerwünscht. Diese Ideologie kam dementsprechend auch bei der Behandlung der ZwangsarbeiterInnen deutlich zum tragen. Während Zwangsrekrutierte aus Westeuropa kaum Schikanen unterworfen waren, hatten JüdInnen, die Beschäftigten aus Osteuropa sowie Sinti und Roma unter besonders schikanöser Behandlung zu leiden. Zur Diskriminierung gehörte die äußerliche Kennzeichnung der Polen durch ein großes "P" oder als Ostarbeiter durch die Buchstaben "OST" auf der Kleidung. Der Tod der ausländischen Arbeitskräfte wurde ohne weiteres in Kauf genommen, waren es doch für die Nazis nur Angehörige einer minderwertigen Rasse.
Alle ZwangsarbeiterInnen wurden durch einen rassistisch- bürokratischen Kontrollapparat aus Wehrmacht, Arbeitsamt, Werkschutz, SS und Gestapo streng überwacht. Sie wurden in zugige und verwanzte Baracken oder in überfüllte Gaststätten und Festsäle eingepfercht und miserabel verpflegt. Den Bombenangriffen der Anti-Hitler-Koalition gegen deutsche Städte waren sie schutzlos ausgesetzt.
In vielen Werken stellten ZwangsarbeiterInnen mitunter ein Viertel der Belegschaft. Nur durch den Einsatz von Zwangsarbeit konnte die Versorgung der deutschen Bevölkerung in den letzten Kriegsjahren noch sichergestellt werden.

Zwangsarbeit unter den Augen der Bevölkerung
Die Zwangsarbeiterlager lagen anders als die Vernichtungslager direkt vor den Fenstern der Berliner Bevölkerung. Zwangsbeschäftigte waren im Berliner Stadtbild ständig präsent - auf ihren Arbeitswegen, ihrer Beschäftigung in kleinen Betrieben, in der Landwirtschaft und natürlich durch ihre Unterkünfte. Bei der Ausbeutung von ZwangsarbeiterInnen waren aber nicht nur große Konzerne beteiligt. Auch Theater, die evangelischen und katholischen Kirchen und Kleinbetriebe wie Bäckereien oder landwirtschaftliche Betriebe nutzten die Möglichkeit der Ausbeutung der völlig rechtlosen Männer und Frauen.

Um nur ein paar Beispiele für den Friedrichshain zu nennen:
In der Gubener Straße beschäftigte die Firma C&A Brennickmeyer in der Hausnr. 39 ZwangsarbeiterInnen. Eigens ein dafür ausgebautes Dachgeschoss in der Gubener Straße 47 diente als Unterkunft für die "Ostarbeiterinnen". In der gleichen Straße waren nachweislich in der Hausnr. 37 und 48 weitere ZwangsarbeiterInnen untergebracht. Am Warschauer Platz unterhielt die Firma Osram ein Zwangsarbeiterlager. Hier waren auch bis 1943 jüdische Zwangsarbeiterinnen untergebracht, die dann deportiert wurden. Auch in der Frankfurter Allee befanden sich eine Anzahl an Unterkünften und Beschäftigungsstellen von ZwangsarbeiterInnen. Frankfurter Allee 24 (früher 48) befanden sich die Festsäle der Firma Siemens und Halske, in der das Arbeiter - "Lager 10" eingerichtet war. Die Reichsbahn beispielsweise unterhielt hier viele Zwangsbeschäftigte. In der Gravieranstalt Willy Kleinau, Frankfurter Allee 31, mussten fünf Personen gegen ihren Willen arbeiten. Auf dem Grundstück Frankfurter Allee 71, früher 288, wurde 1940 die Krone Pressewerk GmbH errichtet. Hier arbeiteten bis zu ihrer Deportation 1942/1943, 90 jüdische ZwangsarbeiterInnen. Im Juni 1944 waren es dann insgesamt 1499 Beschäftigte ,die dort arbeiteten, ein Drittel dieser waren ausländische ZwangsarbeiterInnen. Dies sind nur wenige Beispiele aus Berlin Friedrichhains, die belegen, dass nur zu offensichtlich die Ausbeutung von Menschen durchgeführt wurde und ein Großteil der Bevölkerung daran mitwirkte, indem auch sie ZwangsarbeiterInnen beschäftigten oder vor den Geschehnissen die Augen verschlossen. Die Schutzbehauptung der deutschen Bevölkerung nach 1945 man habe von nichts gewusst, kann anhand der Lage von NS -ZwangsarbeiterInnen leicht widerlegt werden.

Nach 1945 kaum Entschädigung
Doch auch nach 1945 ging das Leiden für die vielen Zwangsarbeiterinnen weiter. Sie wurden als besondere Opfergruppe weder von der Politik noch lange Zeit von der Geschichtswissenschaft wahrgenommen. In verschiedenen Ländern standen die ehemaligen ZwangsarbeiterInnen gar im Verdacht, mit den Deutschen kollaboriert zu haben.
Lange wurde den Menschen individuelle Entschädigungsansprüche oder wenigstens Lohnnachzahlungen verweigert. Mit Pauschalzahlungen an einige Regierungen sah die BRD ihre Verantwortlichkeit erfüllt. Die von dem Sklaveneinsatz profitierenden Betriebe lehnten von jeher, von symbolische Ausnahmen abgesehen, jede Verantwortung ab. Erst ab den neunziger Jahren, also fast 50 Jahre später, sorgten internationale Proteste, die Sorge um das Firmen Image und die angekündigten Sammelklagen vor US- Gerichten dafür, dass die deutsche Wirtschaft auch an einer symbolischen Wiedergutmachung ihrer Schuld interessiert war. Dabei ist der Betrag der an die Opfer ausgezahlt wurde lächerlich gering. Hinzu kommt, dass viele Opfer noch immer nichts von ihrem Geld gesehen haben. Viele erfahren nichts von ihren Ansprüchen auf Entschädigung, und auch wenn müssen sie einen langen bürokratischen Weg gehen, der sich oft über viele Jahre hinzieht. Diesem entwürdigenden Prozedere wollen sich nur wenige aussetzen.
Bevor die Überlebenden für Leistungen der Bundesstiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" in Frage kommen, verzichten sie für die Zukunft auf alle weiteren Rechtsansprüche. Für die mittlerweile sehr alten Überlebenden, von denen die meisten aus Osteuropa kommen, ist dies eine weitere Verhöhnung. Sie könnten den Geldbetrag, so gering wie er auch ist, gut gebrauchen, doch bedeutet die Annahme des Geldes dass sich die deutschen Wirtschaft und deutsche Politik mit einer lächerlichen Summe von der Geschichte freikaufen können. Wieder anderen ZwangsarbeiterInnen, beispielsweise den verschleppten Italienern, wird der Status als Opfer des NS-Regimes, mithilfe eines Gutachtens eines Professors der Humboldt Universität Berlin, gänzlich verwehrt. Von den vielen 70 bis 90 jährigen wird ein Großteil die Auszahlung des Geldes nicht mehr erleben.

Nur allzu deutlich ist, dass von einer Vergangenheitsbewältigung nicht gesprochen werden kann. Darum sollte die Zukunft der Vergangenheit eine Auseinandersetzung mit den Geschehnissen des Nationalsozialismus genauso umfassen wie eine Entschädigung der ZwangsarbeiterInnen. Die Betriebe, die durch Sklavenarbeit reich geworden sind und vom Nationalsozialismus profitiert haben können sich nicht mit Almosen vor ihrer Verantwortung freikaufen!

Weiterführende Quellen:
www.zwangsarbeit-in-berlin.de
www.berliner-geschichtswerkstatt.de
www.kreuzbergmuseum.de

>>> Flugblat als PDF

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>>> Indymediabeitrag zur Kundgebung
„Wildes Gedenken“ in Berlin Friedrichshain

Dokumentation Plakat „Genau hier.. war ein Zwangsarbeiterlager.“

Genau Hier... War ein Zwangsarbeiterlager

Zwischen 1939 und 1944 befanden sich in Friedrichshain nachweislich knapp 200 Stätten an denen ZwangsarbeiterInnen lebten und arbeiteten. Viele tausende Menschen wurden hier vom nationalsozialistischen Deutschland zur Arbeit für den deutschen Faschismus gezwungen. Sie prägten den handwerklichen und industriellen Alltag und waren im gesellschaftlichen Leben unübersehbar.
Die Versorgung der deutschen Bevölkerung und der Nachschub für den Vernichtungskrieg gegen die osteuropäischen Staaten, war nur durch die massenhafte Versklavung von Menschen aus allen Teilen Europas durch deutsche Behörden und Firmen möglich.
Viele der ehemaligen NS-ZwangsarbeiterInnen warten bis heute auf eine Entschädigung. Wenn heute darüber diskutiert wird einen Schlussstrich unter diese geschichtlichen Realitäten zu ziehen, um sich als Deutsche wieder „wohlfühlen“ zu können, bekommen Opfer des Nationalsozialismus natürlich das kotzen! Wir wollen dem bewussten Vergessen und Verdrängen entgegenwirken.

Frankfurter Allee 24 (Siemens)
Hier befanden sich die „Prachtsäle des Ostens“, deren Betreiber, H. Brandt, die Festsäle an Siemens & Halske vermietete, um hier das „Lager 10“ einzurichten und das Kino „Viktoria-Theater“ von W. Hein, in dem die Deutsche Reichsbahn ein Zwangsarbeiterlager unterhielt.

Frankfurter Allee 71b (Krone GmbH)
Hier war ein Belgier- und Ostarbeiterlager der Krone GmbH mit mehreren hundert Insassen.

Neue Bahnhofstraße 9-17 (Knorr-Bremse AG)
Die Firma stellte Rüstungsgüter her und bekam daher Zwangsarbeiter/innen zugewiesen. Eine Ukrainerin, die 1942 aus ihrem Heimatort verschleppt wurde, erinnert sich: „Die Behandlung durch die Wachmänner und Meister war grob und grausam. (...) Die Kleidung, die wir bekamen, entsprach weder der Jahreszeit noch dem Wetter. Wir waren oft krank, aber wir mussten arbeiten.“
Die Unterkunft der russischen Zwangsarbeiter/innen lag im Keller unter dem Hof des Verwaltungsgebäudes. Als 1944 dort eine Bombe detonierte, gab es keinen Arzt für die Verletzten.

Warschauer Platz (Osram)
Fast alle Grundstücke um diesen Platz gehörten der Osram GmbH & Co. KG. Hier unterhielt die Firma ein Zwangsarbeiterlager, in dem fast ausschließlich sowjetische Zwangsarbeiterinnen untergebracht waren. Sie mussten in dem Glühlampenwerk in der Rotherstr. 23 arbeiten. Osram hatte hier auch jüdische Zwangsarbeiter/innen einquartiert, die meist 1943 deportiert wurden.

Gubener Straße 37-48 (C&A Brenninckmeyer)
Hier befand sich ein Lager mit „Ostarbeiterinnen“, die zur Bekleidungsherrstellung eingesetzt wurden. Von Sommer 1943 bis Sommer 1944 starben Menschen aus diesem Lager vor allem an den Folgen von Hunger und mangelnder Hygiene.

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