18.02.
80 Jahre Horst-Wessel-Mythos
Von der Durchsetzungsgeschichte der NSDAP im roten
Friedrichshain
Vetomat (Scharnweberstr. 35) 19 Uhr
Am
23. Februar vor 80 Jahren verstarb der SA-Führer Horst Wessel an
einer Blutvergiftung im Friedrichshainer Krankenhaus. Nachdem er im Januar
1930 vom Rotfront-Kämpfer Albrecht Höhler ins Gesicht geschossen
wurde, verweigerte er einem jüdischen Arzt in der Ambulanz Hand an
seinen "arischen Körper" zu legen. Obgleich sein Tod unspektakulär
war, wurde er vom NSDAP-Propagandachef Goebbels als "Märtyrer
für Deutschland" gefeiert und später sogar der ganze Friedrichshain
nach ihm benannt.
Opfermythen halten sich bekanntlich ungeachtet aller Transformationen
durch die Jahrhunderte. So auch bei Horst Wessel, der gerade mal 22 Jahre
alt wurde und dessen Wirken sich darauf beschränkte, das Lied „Fahne
hoch“, die Melodie eines damaligen Gassenhauers, mit neuem Text
zu unterlegen und mit seinem SA-Sturm Friedrichshain zwischen 1929 und
´30 durch Gewaltexzesse unsicher zu machen.
Auch heute noch lebt der Mythos Horst Wessel fort, "Die Fahne hoch"
ertönt als Klingelton, und die mit ihm verbundenen jugendlich-rebellisch
aber dennoch soldatisch-statthaften Tugenden sind identitätsstiftend
für kriegs- und pfadfinderbegeisterte Neonazis. Alle Jahre wieder
erscheinen Bücher zum Mythos Wessel - welche wahrscheinlich nicht
unwesentlich zur weiteren Rezeption beitragen. Ein Entmystifizierungsabend
von und für HobbyhistorikerInnen, die sich über Wessel hinaus
mit dem Übergang der Weimarer Republik zum deuschen Faschismus beschäftigen
wollen.
>>> Veranstaltungsbericht
und komplett
als MP3 (40min)
----------------------------------------------------------------------------------------------
Veranstaltungsskript des Historiker Duos
Einleitung
Antifa Friedrichshain
Herzlich willkommen beim „Offenen
Antifacafe“ im Vetomat. Thema des heutigen Abends ist Horst-Wessel
und der Horst-Wessel-Mythos.
Dieses Thema ist natürlich auch deswegen für uns an diesem Ort
hier relevant, da ja Horst Wessel in Friedrichshain gelebt hat und nicht
zuletzt deswegen der gesamte Friedrichhain im 3.Reich nach Horst Wessel
benannt wurde.
Eine Zeitlang wurden ja Stimmen laut, die sagten, dass die einzigen die
heute Wessel noch jedes Jahr thematisieren würden die Antifa sei,
und auch in der taz von vor einigen Tagen wurde für die Veranstaltung
geworben, gleichzeitig wurde aber die Befürchtung geäußert,
dass sie ehr zur Mythenbildung als zur Dekonstruktion beitragen könnte.
Dass Horst Wessel auch noch heute von Neonazis als ihr Vorbild angesehen
wird zeigt eine Veranstaltung über Horst Wessel vom letzten Sonntag.
Diese fand statt in der NPD-Zentrale und wenn man sich den gewohnt schwülstigen,
Bericht durchliest, finden sich wunderschöne Beispiele für noch
gelebte Mystifizierung Wessels.
Diese Nazi-Veranstaltung würden wir auch gerne zum Anlass nehmen
um an Ende vielleicht nochmal gemeinsam Vorschläge auszutauschen
wie man Wessel-Propaganda sinnvoll begegnen kann.
Ich freue mich sehr heute Abend Oliver Reschke begrüßen zu
können.
Oliver Reschke hat als erster die große Lücke in der Geschichtswissenschaft
erkannt, dass es bis vor kurzem, also fast 60 Jahre nach 45, es keine
detaillierte Arbeiten über den Aufstieg der Nazis in Berlin gab.
Er hat sich dann vor einiger Zeit aufgemacht dies zu ändern und brachte
bereits 2 sehr empfehlenswerte Bücher heraus: Der Kampf der NSDAP
um den roten Friedrichshain und „Der Kampf um die Macht in einem
Berliner Arbeiterbezirk. Nationalsozialisten am Prenzlauer Berg.“
Im Moment arbeitet er an einer Gesamtdarstellung über die NSDAP und
den Kampf um Berlin.
Er wird heute für uns die historischen Hintergründe über
Horst Wessel vorstellen.
Herzlich Willkommen.
Bevor Oliver Reschke über Horst Wessel
und den Mythos der um ihn gestrickt wurde referiert, werde ich versuchen
euch etwas auf die Zeit einzustimmen und versuchen die damalige Atmosphäre
und Stimmung etwa spürbarer zu machen.
Damit dies kein ganz trockenes Referat über die Weimarer Republik
und die verschiedenen Wehrverbände wird, will ich versuchen dies
durch 3 Zitate aus Zeitungen und Berichten der damaligen Zeit zu erreichen.
1.Zitat stammt von der SA, eins von der
KPD und eins von der Polizei. Und es geht nicht explizit um Wessel sondern
allgemein um die zunehmenden Auseinandersetzungen.
Das erste Zitat stammt aus einer Selbstdarstellung
des SA-Sturms 33, damals einer der berüchtigtsten SA-Stürme
in Berlin. Auch wenn dieser SA-Sturm hauptsächlich in Charlottenburg
agiert hat, ist die Selbstwahrnehmung in diesem Bericht sicherlich auch
auf Friedrichshain übertragbar:
„Anfang 1930 zählte der Sturm schon 100 Mann. Gingen wir
bisher von Zeit zu Zeit dem roten Terror aus dem Wege, um Verluste zu
vermeiden, so wird das jetzt grundsätzlich anders. In keinem Fall
verzichten wir mehr auf das Recht auf die Straße.“ „Ständig
stehen Wachen vor dem Lokal, und in der näheren Umgebung gehen Streifen.
[...]In den ersten Tagen [...] gelingt es den Kommunisten die Lokalfenster
einzuwerfen und SA-Männer zu überfallen [...] Dann wird es anders.
Jeder Angriff des Gegners wird mit schwersten Verlusten für ihn abgeschlagen.
[...] „Ein Kommunist wird erschossen, zwei verletzt. Da endlich
wird es ruhiger der Gegner weiß, daß er sich an uns die Zähne
ausbeißt.“ (Sturm 33 Hans Maikowski. Geschrieben von
Kameraden des Toten. 10.Auflage: Berlin 1942. S. 26.)
Eine typische Naziquelle: Im Vordergrund
steht der Kampf der tapferen SA im rot beherrschten Kiez. Man stilisierte
sich selber als eine kleine, aber aufrechte und tapfere Gruppe, die durch
Organisationstalent und Durchhaltewillen den Angriffen widerstehen kann
und damit zum Sieg der NS-Bewegung beitrugen.
Diese Quelle hat aber auch einen wahren Kern: die Sturmlokale der SA hatte
am Anfang einige Niederlagen einzustecken und konnte trotzdem bis 1933
das Netz der Sturmlokale ausbauen und sich auch in traditionell roten
Bezirken festsetzen.
Wer der in der Quelle erwähnte tote Kommunist war ist unklar, den
auf das Konto des Sturm 33 gingen mehrere Tote: So starb am 31. Januar
1931 der Kommunist Otto Grüneberg und noch im gleichen Jahr am 9.Dezember
der Kommunist Walter Lange.
Für die Arbeiterbewegung war das offene
Auftauchen der SA eine ungeheure Provokation, nicht zuletzt weil von ihnen
eine reale Gefahr ausging.
Zu Beginn dachte die KPD noch, man könnte die SA durch einfache Mittel
wieder loswerden, die Parole „Schlagt die Faschisten wo ihr
sie trefft“ wurde in dieser Zeit ausgegeben. Die Auseinandersetzungen
nahmen zu, aber der SA gelang es dennoch Fuß zu fassen. Ende 1931
rückte die Parteiführung der KPD offiziell vom sogenannten „individuellen
Terror“ ab.
Man erkennt in dieser Resolution sehr gut das verzweifelte Bemühen,
die eigenen Leute zu disziplinieren, ohne sie grundsätzlich vor den
Kopf zu stoßen.
In der Resolution des ZK vom 10. November
1931 hieß es:
„Die linke Gefahr in der revolutionären Bewegung zeigt
sich u.a. im Entstehen terroristischer Stimmungen, der Anwendung von Einzelterror
gegen die Faschisten, in der Durchführung sinnloser Einzelaktionen
und bewaffneter Einzelüberfälle, in abenteuerlichen Spielen
mit Sprengstoff... Ohne auch nur einen Augenblick lang auf die Anwendung
aller zweckmäßigen Kampfmittel zu verzichten, ohne auch nur
im geringsten die kommunistische Losung des organisierten proletarischen
Massenselbstschutzes gegen faschistische Überfälle und Gewalttaten
einzuschränken, erklärt das Zentralkomitee jede Verfechtung
oder Duldung der terroristischen Ideologie und Praxis für vollkommen
unzulässig. Wer sich von Verzweiflungsstimmungen mitreißen
lässt, wer sich von den Feinden des Proletariats sein Verhalten diktieren
lässt, wer den faschistischen Provokationen nachgibt, wer die Parteidisziplin
bricht, ist des Namens eines Kommunisten unwürdig.“ (Beschluss
veröffentlicht in: Rote Fahne vom 13. November 1931)
Man kann sich vorstellen, dass diese Position
nicht überall auf Gegenliebe stieß:
Eine kommunistische Jugendgruppe veröffentlichte ein Schreiben indem
sie mit klaren Worten hervorhob:
„Wir pfeifen was darauf, wenn wir von SA-Leuten ermordet werden
und am Tage unserer Beisetzung ein kleiner Teil der Proleten einen halbstündigen
Proteststreik durchführt, worüber sich die SA amüsiert,
daß sie so billig dabei wegkommt.“ (Rosenhaft: KPD der Weimarer
Republik: S. 418)
Die Auseinandersetzungen gingen trotz dieses Beschlusses weiter. (Die
Kommunisten sahen sich nicht nur einem sondern zwei Gegnern gegenüber
in den Jahren 1930/31 wurden 18 Kommunisten von der SA, aber 15 weitere
von der Polizei erschossen. GStA PK, I. HA. Rep. 77, MdI, Tit.4043, Nr.
122)
Eine letzte Sicht auf die Auseinandersetzungen,
bevor es dann endlich um Horst Wessel geht, hatte natürlich die Polizei:
Der Polizeipräsident von Berlin war der Sozialdemokrat Albert Grzesinski.
Im Herbst 1930 erklärte er auf einer Veranstaltung des Reichsbanners
in Kreuzberg: dass die größere Gefahr von den Kommunisten ausgehe
und nicht von den NS. Interessanterweise änderte sich seine Position
und im Sommer 1932 gab er der bürgerlichen Vossischen Zeitung ein
langes Interview, in dem er nun weiterhin vor den Kommunisten warnt, aber
ebenso stark vor der SA:
„[...] Grade die Nationalsozialisten, [...]
sind es gewesen, die sich in den letzten Wochen, [...] in weit größerem
Maße zu Gewalttätigkeiten haben hinreißen lassen als
etwa die Kommunisten. In der Zeit vom 20. Juni bis zum 7. Juli sind 23
Feuerüberfälle auf politische Gegner in Berlin verübt worden.
In sechs Fällen waren die Kommunisten die Schuldigen, in 17 die Nationalsozialisten.
[...] Das Auffällige aber gerade bei den politischen Ausschreitungen
der letzten Zeit ist das klare Zutagetreten von planmäßigen
Terrorakten. In fünf Fällen sind Motorräder, in sieben
Fällen Autos vor gegnerischen Verkehrs-Lokalen vorgefahren, aus denen
blindlings, in der Absicht, Gegner zu verletzen oder zu töten, durch
Schaufenster und Türen hineingeschossen wurde. [...]Allein in einer
Nacht, in der Nacht vom vergangenen Sonnabend zum Sonntag, wurden sieben
kommunistische Verkehrslokale von Nationalsozialisten unter Feuer genommen.“
(Interview in der „Vossischen Zeitung“ vom 8. Juli. 1932.
Intention Grzesinskis war es, die Handlungsfähigkeit der preußischen
Polizei und die Gefahr durch die Nationalsozialisten zu dokumentieren.
Letztere verlangten einen Generalkommissar für Preußen, um
Grzesinski loszuwerden. Am Tag des Interviews hatte der Vorsitzende der
Deutschnationalen Fraktion im preußischen Landtag den Reichskanzler
zum Eingreifen in Preußen aufgefordert, da die preußische
Polizei nicht in der Lage sei, die Gewalttaten zu beenden und da besonders
die sozialdemokratischen Polizeipräsidenten enge Verbindungen mit
den Kommunisten hätten. Siehe Winkler, Weimar 1918-1933 München
1993. S. 490. Papen rechtfertigte den Preußenschlag vom 20. Juli
1932 damit, dass die abgesetzte Regierung nicht mehr fähig gewesen
sei, die erforderlichen Maßnahmen gegen die KPD umzusetzen. Heinrich
A.Winkler: Weimar 1918-1933. München 1993. S. 500.)
Dieses Interview zeigt ganz deutlich, dass
die SA eben nicht passiv abwartete sondern selber die Konfrontation suchte.
Zu Beginn dieser sich stetig weiter aufheizenden Situation, in der es
regelmäßig zu Saal- und Straßenschlachten kam, stand
der Pfarrersohn Horst Wessel, zu dem uns nun Oliver Reschke etwas sagen
wird.
Wie umgehen mit dem heutigen „Wessel-Mythos“
der heutigen Propaganda um Wessel?
NW-Berlin:
„Durch sein charismatisches Auftreten und sein unerbittliches
Einsetzen für die nationalsozialistische Weltanschauung gelang es
ihm, zahlreiche Kommunisten ins Nationale Lager zu ziehen.“ [...]
Horst Wessel ist auch heute noch ein Vorbild für die gesamte Nationale
Bewegung. Er lebte für den Nationalsozialismus, ging keiner Gefahr
aus dem Weg und nahm im Kampf um die Freiheit Deutschlands schließlich
sogar seinen eigenen Tod in Kauf. Horst Wessel lebte ganz nach der Devise
„Du bist nichts, dein Volk ist alles“.
Mythos: Gewohntes Bild vom tapferen SA-Führer,
der keine Gefahr scheut und sein Leben für die Sache gibt. Der Tod
im Kampf erscheint geradezu erstrebenswert.
Wie kann der Wessel-Propaganda entgegengetreten
werden:
Ich denke auf zwei Weisen:
1. Mythen, Propaganda funktioniert immer stark über Bilder! Das sieht
man nicht zuletzt auch an dieser Veranstaltung: Als Bild für den
Flyer wurde ein Foto gewählt was auch von den NS geliebt wurde: Horst
Wessel in fescher SA-Uniform auf dem Nürnberger Parteitag 1929. Seinen
Männern forsch und fröhlich voranschreitend. Mit so einem Bild
wird der „Mythos“ Wessel unfreiwillig weitergetragen. Wofür
ich plädiere ist, in Zukunft andere Bilder von Horst Wessel zu benutzen,
die es auch zahlreich gibt. Z.B. S.37: Horst Wessel als Baby mit Schmollmund,
der aussieht als würde er gleich anfangen zu weinen. Oder: s. 89
Ein Bild von 1925. Horst Wessel in knapper Shorts mit nacktem Oberkörper
und Gitarre. Statt einem verwegen Kämpfer sieht man hier ein blasses
Bürschchen, mit dünnen Armen das am Rand der Clique sitzt. So
Bilder würde ich gerne öfter sehen.
2. Zum zweiten ist es sehr einfach-
man muss nur Wessels eigene Berichte aufmerksam lesen:
Aus Wessels eigenen Schriften kann man auch ein ganz anderes Bild von
Wessel gewinnen: 1927 fuhr er mit dem Fahrrad zum Parteitag nach Nürnberg
und die Reisebeschreibungen lassen eher das Bild eines hilflosen Jüngelchens
mit bildungsbürgerlicher Herkunft entstehen. Als sein Fahrrad einen
Platten hat, kann er es nicht flicken, er hat immer genug Geld sich in
Pensionen einzumieten und sich ein warmes Mittagessen zu kaufen.
Oder: Das Bild vom verwegen Kämpfer der keine Straßenschlacht
scheute: Aus einem selbst verfassten Lebensbericht von 1925 geht hervor,
dass Wessel in der Schule dauerhaft vom Sport befreit war, weil er sich
in der Schule mehrfach den rechten Am gebrochen hatte. Konkrete Prügelgeschichten
kommen bei ihm nie vor: Er schreibt immer von „wir“ nie von
konkreten Kämpfen die er bestanden hatte.
----------------------------------------------------------------------------------------------
Horst Wessel - Mythos und Realität
Oliver Reschke
Da es über Horst Wessels schon genügend
Veröffentlichungen gibt, auch aus Antifa-Kreisen – so sei an
dieser Stelle etwas auf den Beitrag der Antifa Friedrichshain aus dem
Jahre 2005 zum 75. Todestag Wessels oder die PDF-Broschüre der AIWP
und AAPB verwiesen (siehe die jeweiligen Internet-Präsenzen) –
werde ich in meinem Vortrag biographische Angaben zu Wessel nur anführen,
wenn sie direkt dem Thema dienlich bzw. zum Verständnis wichtig sind.
Mein Vortrag basiert im Wesentlichen auf Angaben aus dem 2009 im Siedler
Verlag erschienenen Buch von Daniel Siemens: „Horst Wessel. Tod
und Verklärung eines Nationalsozialisten“. Mit diesem Buch
liegt zum ersten Mal eine fundierte wissenschaftliche Studie zum Thema
vor. Sie sticht nicht nur durch eine beeindruckend breite Quellen- und
Literaturbasis und den damit verbundenen Recherche- und Auswertungsaufwand
heraus, sondern es war Siemens auch möglich, erstmals gänzlich
neues Quellenmaterial zu nutzen. Dieser günstigen Konstellation ist
diese verdienstvolle Studie zu verdanken, die zudem aufgrund ihres flüssigen
Schreibstils auch für Hobbyhistoriker gut lesbar sein dürfte.
1. Persönlicher
Werdegang
Um den Werdegang Wessels nachvollziehen zu können, muss man sich
zum einen die Lebenssituation der bürgerlichen Jugendlichen der sogenannten
„Kriegsjugendgeneration“ vor Augen halten. Damit ist die Generation
der zwischen 1900 und 1910 Geborenen gemeint, deren Alterskohorte sehr
viele Angehörige der späteren nationalsozialistischen Funktionärselite
wie etwa Heinrich Himmler, Adolf Eichmann, Josef Mengele, Reinhard Heydrich,
Martin Bormann, Albert Speer oder Rudolf Höß aufweist, um nur
einige der bekanntesten Namen zu nennen. Was diese Männer verband
war, das vermeintlich positive Kriegserlebnis der Väter im 1. Weltkrieg
versäumt zu haben und das Erleben eigener Zukunftslosigkeit in der
nachfolgenden verhassten Weimarer Republik, die durch die Kriegsniederlage
und die daraus resultierenden schweren Wirtschaftskrisen mit Hyperinflation
heillos zerrüttet war und so vom Bürgertum überwiegend
als Periode der Verunsicherung und des Statusverlusts empfunden wurde.
Das Verlangen, diesen unverschuldeten Verlust zu kompensieren, gab für
viele Angehörige dieser Generation den Anstoß, sich als Jugendliche
der extremen Rechten anzuschließen, um den von den Vätern verlorenen
Weltkrieg nachträglich durch extreme Militanz zu gewinnen. Für
sie war die Politik nur die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln.
Wessel ist für diese „Kriegsjugendgeneration“ ein geradezu
phänotypisches Beispiel.
Zum anderen hatten im Falle des am 9. Oktober 1907 in Bielefeld als erster
Sohn des protestantischen Pfarrers Dr. Ludwig Wessel geborenen und mit
seiner Familie seit 1913 wegen der Berufung seines Vaters an die St.-Nikolai-Kirche
in Berlin lebenden Horst Wessels die im Elternhaus herrschenden und den
Jugendlichen nachhaltig prägenden politischen Anschauungen einen
großen Einfluss auf den Heranwachsenden. Mit seinem unbedingt völkisch-radikalen
Pangermanismus und rabiaten Antisemitismus, durch welchen sich auch seine
Predigten auszeichneten, gehörte Wessels Vater, ein ehemaliger großdeutscher
Feldprediger im 1. Weltkrieges an der Seite Hindenburgs, fraglos zu den
geistigen Wegbereitern des Nationalsozialismus.
Der frühe Tod des Vaters 1922 beraubte den damals 15-jährigen
Sohn der Chance, gegen die väterliche Autorität aufzubegehren
und sich auch mit dessen Weltanschauung kritisch auseinanderzusetzen.
Insofern war es nur konsequent, dass er sich die politischen Ansichten
des Vaters zu eigen machte und sich als Gymnasiast in Berlin der rechtsradikalen
bündischen Jugendbewegung anschloss. Damit begann eine politische
Lehrzeit, die Wessel, der Ostern 1926 sein Abitur ablegte, zur damals
noch unbedeutenden NSDAP führte, in die er am 7. Dezember 1926 eintrat.
Gleichzeitig wurde er Mitglied der SA, der uniformierten Sturmabteilung
der Partei, die derzeit im „roten“ Berlin gerade mal 450 gewaltbereite
Schläger aufbieten konnte. Am 4. Mai 1929 wurde Wessel die Führung
des zunächst kleinen Sturmes 5 im Berliner Arbeiterbezirk Friedrichshain
übertragen, der wegen Wessels großer Rekrutierungserfolge bis
Ende 1929 auf etwa 250 Mann anwuchs. Unter Wessel entwickelte sich Sturm
5 neben dem Sturm 33 in Charlottenburg zum berüchtigsten SA-Sturm
Berlins.
Friedrichshain war eine der „roten Hochburgen“ im damaligen
Berlin, die es gegen die „braunen Bataillone“ Hitlers zu verteidigen
galt, die seit 1929 verstärkt dazu übergingen, Stützpunkte
im proletarischen Feindesland zu errichten. Dabei handelte es sich oft
um kommunistische Stammkneipen, die von der SA erobert und zu „Sturmlokalen“,
sprich zu Versammlungsorten von SA-Leuten und Sympathisanten umfunktioniert
werden sollten. Diese teilweise mit großer Brutalität von beiden
Seiten ausgefochtenen Kämpfe um die Kneipen des „Kiez“
erklärt sich daraus, dass diese angesichts der rapide anschwellenden
Arbeitslosigkeit und der damit verknüpften sozialen Verelendung der
Arbeiterschaft einen Ersatz für Geborgenheit darstellten. Allein
deshalb war es so eminent wichtig, wer hier das Sagen hatte und damit
das ideologisch-politische Milieu bestimmte.
Doch trieben Wessel auch andere Beweggründe als das „Kriegspiel“
die Funktion des Sturmführers in Friedrichshain zu übernehmen.
In einer von ihm verfassten sogenannten Politika – eine der von
Siemens erstmals genutzten Quellen, mehr dazu im 2. Kapitel – schrieb
Wessel:
„Ich versuchte jede politische Richtung zu verstehen und dabei
kam ich dahinter, daß es im roten Lager ebenso viel, vielleicht
noch mehr fanatische, opferbereite Idealisten gibt als auf der Gegenseite.
Hinzu kam noch die ganze erschütternde Erkenntnis der großen
sozialen Verelendung und Knechtschaft der arbeitenden Schichten aller
Berufe. Ich war eben Sozialist geworden. Nicht Sozialist aus Gefühl,
wie so mancher aus dem bürgerlichen Lager, sondern vor allem Sozialist
aus Vernunft.“
(zit. nach Siemens, S. 66)
Hier könnte Wessels Sozialisation
im protestantischen Pfarrhaus nachgewirkt haben, die aus ihm einen Vertreter
des sogenannten „christlichen Nationalsozialismus“ machte.
Wessel war längst nicht der einzige bürgerlich-christlich Sozialisierte,
den es in den Osten der Hauptstadt zog. Die Soziale Arbeitsgemeinschaft
Berlin-Ost etwa als Teil der sogenannten Settlementbewegung, deren tragende
Kräfte Pfarrer und Studenten darstellten, war bereits seit den 1910er
Jahren im Rahmen der Inneren Mission in Friedrichshain im Einsatz; wo
sie die oftmals miserablen Lebensumstände der proletarischen Bevölkerung
beobachtete und soziale Hilfsdienste leistete.
Wessel war natürlich kein Missionar in diesem Sinne. Für ihn
stand nicht das Karitative, sondern das Politsch-Militärische –
und damit letztlich die Machtfrage – im Vordergrund. Er scheint
aber erkannt, jedenfalls instinktiv begriffen zu haben, dass eine politische
Massenbewegung im Berlin der 1920er Jahre nur dann Erfolg haben konnte,
wenn sie sich die Überbrückung der Klassengegensätze, die
Parole „Volksgemeinschaft“, auf die Fahnen schrieb. Man könnte
ihn daher, einem in dieser Zeit geprägten Begriff folgend, einen
sogenannten „Jungbürger“ nennen. Horst Wessel –
das könnte man als seine persönliche Tragik bezeichnen –
war eine vulgäre Ausprägung dieses Typus, dessen Absichten,
mögen sie in einzelnen Aspekten auch ehrenwert gewesen sein, durch
sein Handeln moralisch diskreditiert wurden. (vgl. Siemens, S. 78/79)
Hierfür könnte man unzählige Beispiele aus meinen Veröffentlichungen
über die NSDAP in Friedrichshain oder auch Prenzlauer Berg anführen,
doch will ich es bei einem Beispiel aus Siemens Buch bewenden lassen:
„Wessel wurde Ende 1928 Führungsfigur der Berliner SA.
Mit seinen Männern, nicht selten ehemaligen Kommunisten, organisierte
er Ausflüge in das Berliner Umland sowie Parademärsche, die
in aufreizender Weise durch die Arbeiterviertel im Norden und Osten der
Stadt führten. Er soll mehrfach in Uniform auf dem Fahrrad durch
Friedrichshain gefahren sein, flankiert von etwa 20 SA-Männern in
Zivil, im Nazi-Jargon ‚Watte‘ genannt, die ihm in kleinen
Gruppen unauffällig folgten. Die Provokation mit verteilten Rollen
gelang, so erzählte rückblickend einer der Beteiligten: ‚Plötzlich
sprangen zwei auf ihn zu, einer hatte einen Knüppel, sie rissen ihn
vom Fahrrad – und da wussten wir ja, was wir zu tun hatten.‘
Überfälle auf zahlenmäßig weit unterlegene Gegner,
das zeigen die Beispiele, waren eher die Regel als die Ausnahme.“
(Siemens, S. 88)
Solche Aktionen aber vor allem seine Rolle
als Chef der SA im Bezirk Friedrichshain brachten Wessel zunehmend ins
Visier der Kommunisten. Er war auf dem Weg zum Profipolitiker, privat
jedoch in einer sehr labilen Situation, als er in seiner zur Untermiete
bewohnten Wohnung in der Großen Frankfurter Straße 62 am 14.
Januar 1930 Opfer eines Feuerüberfalls wurde, dessen Verlauf sich
nicht mehr völlig aufklären lässt. Mehrere Tatbeteiligte
hatten zwar eine Verbindung zur KPD, doch um einen politischen Auftragsmord
handelte es sich wohl nicht. Auch private Rachemotive dürften eine
Rolle gespielt haben, zumal Wessel nach Vernachlässigung und Abbruch
eines Jurastudiums mit einer Frau von zweifelhaftem Ruf, und zwar der
ehemaligen Prostituierten Erna Jaenichen, zusammenlebte. Am 23. Februar
1930 erlag Wessel den Folgen der Schussverletzung.
2. Mythisierung schon
zu Lebzeiten
Als SA-Mann fiel Horst Wessel weniger durch Gewaltbereitschaft als vielmehr
durch eine rastlose agitatorische Tätigkeit auf, mit der er seinem
Vorbild, dem Berliner NSDAP-Gauleiter Joseph Goebbels nacheiferte. Allein
im Jahr 1929 sprach er als Redner auf 56 Versammlungen. Dies wie sein
spektakulärer Einfall, eine eigene Schalmeien-Kapelle aufzustellen,
die bei SA-Umzügen aufspielte und die das bisherige Monopol der kommunistischen
Kampfverbände, die dieses leicht zu spielende Instrument bei ihren
Demonstrationen anstimmten, außer Kraft setzte, ließ ihn in
der SA rasch Karriere machen. Schnell wurde Goebbels auf Wessel aufmerksam.
Bald verband beide ein direkter Draht. Oft saß man zusammen und
besprach das weitere Vorgehen.
In diesem Zusammenspiel entstand wohl auch die Idee, sich an einem Gegenbuch
zur Anfang 1929 veröffentlichten und äußerst erfolgreich
laufenden Autobiographie: „Vom Weißen Kreuz zur roten Fahne“
des kommunistischen Revolutionärs Max Hoelz zu versuchen. So entstammte
die schon erwähnte Politika im Sommer 1929 Wessels Feder. Es handelt
sich um eine 70-seitige Autobiographie mit 80 privaten Fotos, welche erstmals
von Siemens wissenschaftlich ausgewertet und analysiert wurde. In dieser
Schrift stilisiert sich Wessel zu einem geradezu idealtypischen, jungen,
einsatzbereiten Nationalsozialisten in einer Gesamterzählung, die
auf eine Errettungs- und Heilsgeschichte durch den Nationalsozialismus
zuläuft. Sein bereits ganz der nationalsozialistischen Geschichtskultur
verpflichteter Stil deutet darauf hin, dass Wessel auf eine spätere
Verwertung durch die NSDAP spekulierte.
Nicht zuletzt sorgte das von ihm im März 1929 zunächst nur für
den Gebrauch im Sturm 5 gedichtete und nach ihm benannte Lied „Die
Fahne hoch!“, welches aber schnell von anderen Stürmen weiter
getragen wurde, für eine gewisse Bekanntheit Wessels noch vor seinem
Tode.
3. Stilisierung zum
Märtyrer nach dem Tode
Noch während Wessel auf dem Sterbebett lag, erkannte Goebbels die
Chance, endlich um einen Toten der Bewegung eine Märtyrerlegende
aufbauen zu können. Entlarvend sprach er schon als der Haupttäter
gefasst wurde vom „Mörder“ Wessels. Zweieinhalb Wochen
bevor Wessel starb! Für die Nationalsozialisten war der im Proletarierbezirk
Friedrichshain agitierende Bürgersohn Wessel eine ideale Verkörperung
der Idee einer klassenübergreifenden „Volksgemeinschaft“.
Mit der postumen Stilisierung Wessels zum „Märtyrer für
das Dritte Reich“ und „Christus-Sozialisten“ sorgte
Goebbels wohl für den vielleicht wirkungsvollsten politischen Mythos
des Nationalsozialismus.
Spezifisch nationalsozialistisch war die Verklärung eines toten Parteimitglieds,
das man mit einer eigenen Hymne besang, jedoch nicht. Die Kommunisten
hatten bereits seit Mitte der 1920er Jahre ein Lied, mit dem sie an einen
in der Weimarer Republik getöteten Anhänger erinnerten: an den
im Volkspark Halle an der Saale mit knapp 28 Jahren getöteten Fritz
Weineck. Der Hornist im Spielmannszug des Halleschen Roten Frontkämpferbundes
war am 13. März 1925 von Schüssen, welche die Polizei während
einer Wahlkampfkundgebung des kommunistischen Reichspräsidentschaftskandidaten
Ernst Thälmann auf dessen Anhänger abgegeben hatte, tödlich
verletzt worden. Die Kommunisten sprachen von „Arbeitermord“
und machten aus dem völlig unbekannten Opfer Weineck eine Ikone.
An ihn erinnerte „Das Lied vom kleinen Trompeter“. Mit dem
Wessel-Kult konnte die Erinnerung an den „Kleinen Trompeter“
jedoch allenfalls in Ansätzen mithalten, zumal die SA angeblich schon
bei der Beerdigung ihres Helden am 1. März 1930 eine eigene Fassung
des Liedes sang. (vgl. Siemens, S. 132/133)
Das ganze Potential des Horst-Wessel-Mythos konnte sich allerdings erst
nach Hitlers Machtübernahme Ende Januar 1933 voll entfalten. Was
danach folgte, dürfte den meisten historisch Interessierten allseits
bekannt sein: Das Horst-Wessel-Lied, welches zunächst als Parteihymne
gedient hatte, avancierte zur zweiten deutschen Nationalhymne und war
fortan in fast aller Munde. Häuser, Schulen, Straßen, Plätze
trugen jetzt seinen Namen, sogar der Berliner Bezirk Friedrichshain wurde
nach Wessel benannt. Wessel-Denkmäler und -Kultstätten entstanden.
In Bezug auf Standorte von Denkmälern, Gedenktafeln u.ä. in
den Bezirken Friedrichshain und Prenzlauer Berg verweise ich auf meine
Veröffentlichungen zu beiden Bezirken.
Doch dem nicht genug: Ein Propagandafilm wurde gedreht. Bücher wurden
geschrieben. Mitte der 30er Jahre wurde gar zeitweilig ein „Horst-Wessel-Stipendium“
vergeben. Horst Wessel wurde Gegenstand geradezu kultischer Verehrung.
Diese nahm solch skurrilen Züge, wie etwa die Anrufung Wessels im
Rahmen eines Fruchtbarkeitsrituales, an. Besonders hervorhebenswert in
diesem Zusammenhang ist, wie anfällig die protestantische Kirche
für eine Heiligenverehrung Wessels war, was Siemens an zahlreichen
Belegen eindrucksvoll zeigt. Nicht nur dass das Horst-Wessel-Lied seit
1933 oftmals in evangelischen Gotteshäusern erschallte, sondern dies
ging soweit, dass in Bremen 1937 eine evangelische „Horst-Wessel-Kirche“
gebaut werden sollte. Der Bremer Landesbischof der Deutschen Christen
rechtfertigte diese seltsame Namensgebung damit, die Kirche habe Anspruch
darauf, den Pfarrersohn „Horst Wessel als den ihrigen zu bezeichnen“.
Diese Vereinnahmung unterband Hitler freilich durch einen Führererlass.
4. Entmythiesierung
Siemens Beweggrund, die Arbeit, aus der ich hauptsächlich rezipiere,
zu schreiben, ist praktisch derselbe welcher mich bewog, zur Geschichte
des Nationalsozialismus in Berlin wissenschaftlich zu forschen. So schreibt
Siemens im Vorwort:
„“Die Beschäftigung mit Horst Wessel sollte nicht
der Propaganda rechtsextremer Kreise überlassen werden. Zwar lässt
sich der Wirksamkeit problematischer politischer Mythen durch historische
Aufklärungsarbeit kaum beikommen, denn die Kraft der Mythen basiert
auf einer in sich geschlossenen narrativen Tiefenstruktur und der Auseinandersetzung
mit fundamentalen menschlichen Sinnfragen. Dagegen ist eine auf wissenschaftlicher
Forschung basierende Geschichtserzählung machtlos, aber sie ist immerhin
geeignet, dem politischen Mythos Horst Wessel das angeblich auf Fakten
basierende Fundament zu entziehen, ihn also ins Reich des Imaginären
zurückzudrängen." (Siemens, S. 10)
Dies will ich anhand einiger Beispiele im
Folgenden versuchen:
Neben Wessels Politika entstammt eine weitere Originalquelle aus seiner
Feder, die erstmals von Siemens wissenschaftlich ausgewertet und analysiert
wurde. Es handelt sich hierbei um das Fahrtenbuch Von Land und Leuten.
Meine Fahrten und Reisen, das Wessel etwa 1928 für den privaten Gebrauch
angefertigt hatte. Während Wessel sich in seiner Politika zu einem
Idealbild des furchtlosen und einsatzbereiten jungen Nationalsozilisten
stilisiert und seine Lebensgeschichte gezielt auf den Fluchtpunkt der
politischen Tätigkeit für die SA zulaufen ließ, weist
ihn sein Fahrtenbuch hingegen als einen von der bündischen Jugendbewegung
geprägten jungen Mann aus, der mit Gitarre und Gesang auf Wanderschaft
ging.
In diesem Zusammenhang zitiere ich wieder eine aufschlussreiche Textpassage
aus Siemens Buch, in der er auf Wessels Reisebeschreibung von seiner Fahrt
mit dem Fahrrad zum Reichsparteitag der NSDAP vom 19. bis 21. August 1927
in Nürnberg eingeht:
„Nur ein einziges Mal geht der
später zum "Arbeiterapostel" überhöhte Wessel
in seiner Reisebeschreibung auf soziale Missstände ein. Von einem
tieferen Verständnis, gar persönlichem Engagement zeugen die
Eindrücke, die er beim Passieren einer Industriestadt in Sachsen
gewinnt, jedoch nicht: "Der Weg führt durch abschreckend häßliche
und schmutzige Arbeitersiedlungen. […] Ein Jammer, dass der Sinn
für ein schmuckes Heim bei diesen Arbeitern so brach liegt. […]
Kinder patschen in einem reißenden Gossenstrom, der sich aus einem
zerbrochenen Hydrantenrohr ergießt. Die Menschen sehen hier alle
etwas bedrückt aus. Kein Gruß, kein Zuruf. Die ewige Tretmühle
der Fabrik- und Zechenarbeit zermürbt an Leib und Seele. […]
Ein freudenarmes Dasein. Ob diese Ärmsten wohl überhaupt den
grünen Wald kennen?" Wessels vielleicht wirklich empfundenes
Mitleid erschöpft sich in einer Mischung aus plakativem Bedauern
und romantisch angehauchter Großstadtfeindschaft. Die politischen
und wirtschaftlichen Hintergründe der Misere schienen ihn nicht zu
interessieren. Das Problem war für den Bürgersohn Wessel mindestens
ebenso ein ästhetisches wie ein soziales: Die Menschen sahen "bedrückt"
aus, Kinder spielten im Dreck, und was den Arbeitern seiner Ansicht nach
vor allem fehlte, war der "Sinn für ein schmuckes Heim".
Es sind die Landschaften, die in Wessels Reisebeschreibung hervortreten,
nicht die Menschen. Viele Gespräche scheint der junge Mann während
der Fahrt nicht geführt zu haben, jedenfalls hielt er sie nicht für
mitteilenswert. Er scheint wie ein etwas abgehobener Schnösel, im
leichten Sportdress gekleidet und eine Schneebrille gegen die Sonne auf
dem Kopf, wie ein Fremdkörper durch die überwiegend ländliche
Umgebung geradelt zu sein.“ (Siemens, S. 70/71)
Ein wesentlicher Bestandteil des Mythos
um Wessel ist, dass er sich in körperlichen Auseinandersetzungen
besonders hervorgetan haben soll. Siemens bescheinigt Wessel anhand der
Auswertung bestimmter Quellen dagegen nur eine „schwache Physis“.
So hatte er sich in der Schulzeit gleich vier Mal den Arm gebrochen und
war vom Turnunterricht in der Schule dauerhaft befreit. Nach Aussage eines
Korpsbruders soll Wessel alles andere als ein guter Kämpfer gewesen
sein. Trotz intensiven Trainings vor der ersten Mensur hätte er es
nur zu einer „mangelhaften Fechtauslage“ gebracht. Auch ist
er niemals durch persönliche Beteiligung an einer Gewalttat aktenkundig
geworden. (vgl. Siemens, S. 65, 73)
Eine weitere Mystifizierung Wessels kann dank Siemens akribischer Recherche
widerlegt werden. In einer nationalsozialistischen Chronik über die
Entwicklung der Berliner SA steht geschrieben:
„Und Horst Wessel tut einen weiteren
Schritt: er löst sich völlig von seiner bürgerlichen Herkunft,
ihren Gewohnheiten und Lebensformen und geht als Werkstudent auf den U-Bahnbau
in der Frankfurter Allee arbeiten.“ (Julius K. v. Engelbrechten,
Eine braune Armee entsteht. Die Geschichte der Berlin-Brandenburger SA,
München/Berlin 1937, S. 94)
Auch in anderen NS-Quellen wird diese Version
kolportiert. Durch Siemens erfahren wir hingegen: Wessel „habe zwar
beabsichtigt, sich Arbeit bei der U-Bahn zu suchen, sei jedoch erkrankt,
bevor er einen Job gefunden hatte.“ Er habe sich vielmehr durch
Unterstützungszahlungen von der Verwandtschaft über Wasser gehalten.
(vgl. Siemens, S. 94/95)
Um am Schluss des Referates zur Fragestellung meiner eigenen Forschungen
zurückzukehren, möchte ich den Vortrag mit zwei Zitaten zu den
Dreharbeiten zum Wessel-Propaganda-Film mit teilweise Originalstatisten
an Originalschauplätzen in Arbeiterbezirken im Jahre 1933 –
also wohlgemerkt nach der „Machtübergabe“ an Hitler –
beenden, die Aufschluss darüber geben sollen, inwieweit die Nazis
ungeachtet des Wessel-Kultes tatsächlich in der Arbeiterschaft Berlins
Fuß fassen konnten:
1) Karl Lewke, ein aktiver KPD-Funktionär
aus Friedrichshain, berichtet:
„Ein verherrlichender Film über
Horst Wessel ging schon bei den Außenaufnahmen daneben, weil sich
den als 'Kommune' verkleideten SA-Männern bald mehr 'echte‘
anschlossen und auch mehr rote Fahnen als geplant aus den Fenstern hingen.
Das Ganze wurde Einmündung Weberstraße/Strausberger Platz (damals
mit anderer Straßenführung) ohne Folgen aufgelöst, weil
niemand in dem Wirrwar Aufnahmestab –Statisten – Neugierige
und richtige Kommunisten durchfand.“ (Der antifaschistische
Widerstandskämpfer, Nr. 6/1987, S. 24)
2) Noch heftiger ging es bei den Dreharbeiten
im ehemals „roten“ Wedding zur Sache:
„Eine Massenszene, die im Arbeiterbezirk
Wedding gedreht wurde, sei in vergleichbarer Weise eskaliert, als die
nach wie vor stark mit den Kommunisten sympathisierenden Einwohner die
Film-Kommunisten für authentisch gehalten und sich mit den alten
Schlachtrufen auf den Lippen, ihren vermeintlichen Kameraden zu Hilfe
eilend, auf die echten SA-Männer und die Polizei gestürzt hätten.
[…] Resümee: Ein Tag voller Chaos, aber vorzügliche Filmaufnahmen.“
(Siemens, S. 145/146)
<<< Aktionen |