6.10.2011: Pogrome
gegen Roma und Sinti stoppen!
300 BerlinerInnen demonstrieren vor Botschaften
Gut
300 DemonstrantInnen fanden sich heute trotz kurzfristiger Mobilisierung
zusammen und protestierten gegen Antiziganismus in Europa aus Anlass der
aktuellen Pogrome gegen Roma in Bulgarien und Tschechien. Von der Botschaft
Tschechiens ging die Demonstration vorbei an den Botschaften Rumäniens,
Ungarns zu einer Zwischenkundgebung vor der Vertretung der Europäischen
Kommission in unmittelbarer Nähe der britischen und französischen
Botschaft. Die Abschlusskundgebung fand vor der Botschaft Bulgariens statt.
Petitionen wurden sowohl an VertreterInnen der Botschaften Tschechiens
und Bulgariens sowie der Europäischen Kommission übergeben.
Wir danken allen TeilnehmerInnen für ihre Unterstützung und
das Durchhaltevermögen trotz des Regens kurz vor dem Ende der Demonstration.
Morgen werden wir hier die Petitionen als Faxvarianten online stellen,
damit alle weiteren UnterstützerInnen, die heute nicht teilnehmen
konnten, ebenfalls ihre Möglichkeit auf Protest wahrnehmen können.
Aufruf:
Demonstration zu den Botschaften von Tschechien, Ungarn, Rumänien
und Bulgarien sowie zur Vertretung der Europäischen Kommission in
Berlin.
Derzeit erleben wir wieder verstärkt pogromartige Zustände und
Stimmungen gegen Roma und Sinti in Teilen Europas. Es gibt Protestmärsche
gegen sie, sie werden schikaniert und bedroht, um sie herum wird abgesperrt,
Häuser werden angezündet, sie werden vertrieben, manchmal auch
brutal ermordet. Behörden schauen zum Teil einfach zu oder weg und
die Polizei versucht lediglich das Schlimmste zu verhindern. Gegenstrategien
gibt es keine. Symptomatisch hierfür stehen zurzeit aktuelle Entwicklungen
in Bulgarien und Tschechien.
"Tschechien den Tschechen, Zigeuner ins Gas!" oder „Roma
zur Arbeit“ sind nur einige der völkisch-nationalistisch und
rassistisch motivierten Hetzparolen mit der sich Neonazis und Rassisten
derzeit an die Spitze von Protesten gegen Roma und Sinti in Tschechien
stellen. Dabei bedienen sie sich latent vorhandener antiziganistischer
Bilder und Stereotype, um Ängste und Hass zu säen sowie Pogrome
zu initiieren und auch durchzuführen. Diese Proteste u.a. organisiert
von der neonazistischen „Arbeiterpartei der sozialen Gerechtigkeit“
finden seit mehreren Wochen u.a. im tschechischen Grenzgebiet zu Deutschland
in Sluknow, Nový Bor, Varnsdorf, Rumburk aber zuletzt auch unangemeldet
in Prag statt. Daran nahmen teilweise auch Neonazis aus Deutschland teil.
In Bulgarien herrschen derzeit ähnliche Zustände und darüber
hinaus ist Wahlkampf. „Türken unters Messer“ und „Zigeuner
zu Seife“ lauten dort u.a. die Hetzparolen von Fußball-Hooligans
und Anhängern der neofaschistischen Partei Ataka bei Protesten gegen
Roma und Sinti in bisher 14 Städten. Latent vorhandener Antiziganismus
in der bulgarischen Bevölkerung wird hier zum Stimmenfang im Wahlkampf
benutzt und geschürt.
Als Anlass dienten einerseits Kneipenschlägereien im August in Tschechien
und der daraus resultierende Versuch Roma und Sinti als ganze Bevölkerungsgruppe
zu kriminalisieren sowie als Sündenböcke für alle gesellschaftlichen
Probleme zu stilisieren. In Bulgarien wird dagegen ein Verkehrunfall vom
23. September im Dörfchen Katunitsa für antiziganistische Hetze
instrumentalisiert. Vorangegangene private Streitigkeiten sowie eine daraufhin
unterstellte Tötungsabsicht bei dem Verkehrsunfall bildeten den Funken,
der die schon lange im Vorfeld betriebene Ethnisierung und Kulturalisierung
sozialer Spannungen und Fehlentwicklungen zur Explosion brachten. Drei
Häuser und Pkw`s gingen daraufhin in Flammen auf und die betroffene
Roma-Familie musste evakuiert werden. Auch hier erscheint es einfach,
nicht nur aber insbesondere in Krisenzeiten Minderheiten zu Sündenböcken
zu konstruieren und rassistische Motivationen bei Teilen der so genannten
einheimischen Bevölkerung zu nutzen bzw. weiter zu schüren.
Dafür werden z.B. einzelnen Straftaten ein rassistischer Hintergrund
zugeschrieben bzw. Kriminalität gleich ganz ethnisiert und kulturalisiert.
Auch VertreterInnen aus Politik, Medien und Gesellschaft beteiligen sich
daran. So wurde und wird die Verantwortung der Politik für eine so
genannte Ghettoisierung bzw. Isolierung von Roma und Sinti, hohe Erwerbslosigkeit,
horrende Mietpreiswucherei und Perspektivlosigkeit sowie Bildungsarmut
entweder geleugnet oder ihnen selbst zugeschrieben. Auch Versuche einen
angeblich organisierten stetigen Zuzug zu suggerieren, um Ängste
zu schüren, sind feststellbar. Gerade Länder und Regionen mit
besonders starken sozialen Verwerfungen bieten dafür den idealen
Nährboden, um Sündenbocktheorien etablieren und so Teile der
Bevölkerung gegeneinander aufhetzen zu können. Populistische
Lösungsvorschläge, wie mehr Polizei, gemeinnützige Stellen
als „Gegenleistung“ für Sozialhilfe oder Pläne zur
Bekämpfung der Ghettobildung sind nicht nur realitätsfern, sondern
taugen ebenfalls lediglich zur Ablenkung von Ursachen, Verursachern und
ProfiteurInnen denn als Lösung gegen eine fortgesetzte Ausgrenzung
oder zur Beseitigung sozialer Ungerechtigkeiten. Sie dienen Neonazis,
Rassisten und Rechtspopulisten als Anknüpfungspunkte und Legitimationsstrategien.
Übergriffe und Selbstjustiz sind die Antwort auf die Jahrzehnte lange
Unfähigkeit, Untätigkeit bzw. Unwilligkeit der politischen Eliten
gesamtgesellschaftliche Probleme wie Rassismus sowie soziale Ausgrenzung
von den systembedingten Ursachen und nicht von den Symptomen heraus zu
thematisieren und zu bekämpfen. Ursachen und Auswirkungen werden
darüber hinaus einfach verdreht, um Symptome sozialer Ausgrenzung
durch Stimmungsmache zur Legitimation von Repressionen und zur Erhöhung
des Anpassungsdruckes zu benutzen. Eine Akzeptanz dafür ist durch
breit vorhandenen Rassismus und Antiziganismus größtenteils
schon geschaffen worden. Bulgarien und Tschechien sind da keine Einzelfälle.
Weder in Osteuropa noch in anderen Teilen Europas wurde Roma und Sinti
je eine gleichberechtigte und selbstbestimmte Teilhabe ermöglicht.
Kontinuitäten bei der Ausgrenzung von Minderheiten und ihre Benutzung
als Sündenböcke lassen sich trotz der historischen Verantwortung
nach dem Völkermord der Nazis an Ihnen auch weiterhin feststellen.
Weder die EU noch deren Mitgliedsstaaten können bis heute wirkungsvolle
Gegenstrategien oder Konzepte gegen Antiziganismus und Rassismus vorweisen.
Reine Symbolpolitik oder Repressionen und Anpassungsdruck unter dem Deckmantel
einer vorgeschobenen so genannten „Integrationsdebatte“ sind
die einzigen „Angebote“. Abschiebungen in eine unsichere,
nicht selten existenzbedrohende Zukunft sind ebenfalls die wahrgenomme
und akzeptierte Normalität.
Wir wollen das nicht länger hinnehmen. Eine solidarische Gesellschaft
kann nur über die gleichberechtigte und selbstbestimmte Teilhabe
aller Menschen realisiert werden. Soziale Ungerechtigkeit und Armut sowie
Rassismus müssen daher aktiv bekämpft werden. Menschen lediglich
auf ihre Nützlichkeit im Sinne ökonomischer Verwertbarkeit zu
reduzieren sowie unter Finanzierungsvorbehalt zu stellen ist zutiefst
unmenschlich und bietet den Nährboden für Ungleichwertigkeitsideologien,
Ausgrenzung und Sozialchauvinismus.
Deshalb rufen wir für den kommenden Donnerstag zu einer spontanen
Protestdemonstration auf, bei der auch Petitionen an die Botschaften Tschechiens
und Bulgarien sowie an die Vertretung der Europäischen Kommission
mit Forderungen zur Beseitigung der Grundlagen für rassistische Hetze
und soziale Ausgrenzung übergeben werden sollen.
>>> Kampagne
„Zusammen handeln gegen Rassismus und soziale Ausgrenzung“
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