26.
Juni 2010: Kundgebung beim Landesparteitag der SPD Residenzpflicht abschaffen!
8.30 Uhr Berliner Kongresszentrum am Alexanderplatz
Berlin Alexanderplatz, Samstag früh
um 8 Uhr: Die ersten TeilnehmerInnen einer Kundgebung, die die Abschaffung
der Residenzpflicht - konkret für Berlin und Brandenburg, aber auch
bundesweit fordert – versammeln sich unter dem Motto 'free movement
is everybody's right! Der SPD in die Hacken treten!' vor dem Berliner
Kongresszentrum, wo heute der SPD Landesparteitag statt fand.
In Berlin und Brandenburg brüsteten sich SPD und Linkspartei 2009
in ihren Koalitionsverträgen mit einer antirassistischen Ausrichtung
rot-roter Bündnisse: Die Residenzpflicht werde abgeschafft, zumindest
zwischen beiden Bundesländern, hieß es vollmundig. Ein halbes
Jahr später wird zurückgerudert. Zwar hat Brandenburg angekündigt
landesintern die Residenzpflicht aufzuheben, doch der Berliner Innensenator
Erhart Körting verschanzt sich hinter ominösen Vorbehalten aus
dem Bundesinnenministerium, die es zu prüfen und zu prüfen und
nocheinmal zu prüfen gelte. Fakt ist an der Residenzpflicht hat sich
nichts geändert. Flüchtlinge sind weiterhin rassistischen Polizeikontrollen
ausgesetzt, bekommen Anzeigen, müssen Geldstrafen zahlen oder sogar
in den Knast!
Wer eine Verlassenserlaubnis beantragt, bekommt oft keine Bewilligung,
die Gründe dafür liegen im Ermessensspielraum der Ausländerbehörden.
Wer in Berlin einen so genannten 'Urlaubsschein' bekommt, muss dafür
auch noch 10 Euro zahlen und daran will Körting auch nichts ändern.
All dies nahm die Chip-Ini (Initiative gegen das Chipkartensystem) zum
Anlass zu der Kundgebung aufzurufen. Unterstützt wurden sie dabei
von der Antifa Friedrichshain, dem Bündnis gegen Lager, FelS (Für
eine linke Strömung), der FiBB (Flüchtlingsinitiative Berlin/Brandenburg),
den Flüchtlingsräten aus Berlin und Brandenburg und der JUSO
Hochschulgruppe Berlin. Über 50 TeilnehmerInnen waren vor Ort. Die
Humanistische Union bot unter dem Slogan 'Residenzpflicht abfrühstücken'
ein Buffet an.
Im Vorfeld des Parteitages wurden mehrere Anträge verschiedener Kreisverbände,
bzw. der AG Migration der Berliner SPD eingereicht, die die Abschaffung
der Residenzpflicht fordern. Über diese Anträge sollte heute
verhandelt werden, deshalb wurde den Abgeordneten Flyer mit auf ihren
Weg ins Kongresszentrum gegeben, auf denen ihnen nochmal klar gemacht
wurde, was sie von der Residenzpflicht zu halten haben.
Dank der schicken Tansparente, Luftballons und rot-weißem Absperrband
mit der Aufschrift 'Residenzpflicht abschaffen!', Musik aus einem Lautsprecherwagen
und einigen Redebeiträgen, konnten sich die Residenzpflicht-GegnerInnen
auch von den anderen Kundgebungen rund um den SPD- Landesparteitag abheben.
Rund herum hatten sich nämlich unter anderen auch die Junge Union,
die Deutsche Steuergewerkschaft und die DpolG (Deutsch Polizei Gewerkschaft)
versammelt.
Fotos: 1
2
Presse: 1
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Aufruf
Die Residenzpflicht für Flüchtlinge in der Bundesrepublik stellt
eine der weitreichendsten Schikanen im Rahmen des Aufenthalts- und Asylverfahrensgesetzes
dar. Sie besagt, dass sich Flüchtlinge nur in ihren Landkreis aufhalten
dürfen. Diese Verpflichtung wird mit der angeblichen Notwendigkeit
begründet, jederzeit für die involvierten Behörden greifbar
sein zu müssen. Defacto bedeutet sie für Flüchtlinge, über
Jahre an Bewegungsfreiheit gehindert zu werden und sich immer wieder der
demütigenden Prozedur der Beantragung eines sogenannten „Urlaubsscheines“
unterwerfen zu müssen, wenn sie ihren Landkreis verlassen wollen.
Die Bewilligung ist völlig von der Willkür der zuständigen
Ausländerbehörde abhängig.
Wer sich das Recht auf spontane Ausflüge, auf unkontrollierte Besuche
bei AnwältInnen und Beratungsstellen, auf freie politische Betätigung
bundesweit und überhaupt auf Bewegung ohne Genehmigung nicht nehmen
lassen will, oder wer keine Verlassenserlaubnis bekommt, aber trotzdem
fährt, lebt in ständiger Angst vor Polizeikontrollen und der
anschließenden strafrechtlichen Verfolgung. Keine andere Ordnungswidrigkeit
wird bei Wiederholung eine Straftat – keine Straftat könnte
gesamtgesellschaftlich lächerlicher, individuell aber verheerender
sein. Flüchtlinge haben kein Bargeld für Geldbußen und
dürfen nicht „kriminell“ sein, wenn sie einen dauerhaften
Aufenthalt wollen. Durch die Residenzpflicht schafft sich der Staat seine
Abschiebegründe und rassistisch interpretierbare Kriminalitätsstatistiken
selbst!
Rot-Rot in die Hacken treten!
In Berlin und Brandenburg brüsteten sich SPD und Linkspartei 2009
in ihren Koalitionsverträgen mit einer antirassistischen Ausrichtung
rot-roter Bündnisse: Die Residenzpflicht werde abgeschafft, zumindest
zwischen beiden Bundesländern, hieß es vollmundig. Ein halbes
Jahr später wird zurückgerudert. Brandenburg hat angekündigt,
landesintern die Residenzpflicht für asylsuchende Ausländer
aufzuheben, die sich ab Juli hoffentlich von Kunersdorf bis Potsdam frei
bewegen können. Die Residenzpflicht für Ausländer mit Duldung
soll jedoch auch weiterhin auf den Landkreis beschränkt werden können.
Berlins Innensenator Körting hat eine Bundesratsinitiative zur Residenzpflicht
angekündigt. Für Asylsuchende soll eine rechtliche Möglichkeit
geschaffen werden, einen Residenzpflichtbezirk auch zwischen zwei Bundesländern
einzurichten. Im Grundsatz halten Berlin und Brandenburg jedoch an der
Residenzpflicht für Asylsuchende fest.
Und für Ausländer mit Duldung, immerhin mehr als 3/4 aller von
der Residenzpflicht betroffenen Flüchtlinge, will Körting die
Residenzpflicht sogar gänzlich unverändert lassen.
Kommt am 26. Juni um 8.30 Uhr zur Kundgebung
vor dem Landesparteitag der SPD im Berliner Kongresszentrum am Alexanderplatz
und fordert mit uns die
Beendigung der Kriminalisierung von Flüchtlingen!
Abschaffung der Residenzpflicht – nicht nur zwischen Berlin und
Brandenburg – sondern auch bundesweit – und für alle
Betroffenen!
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Redebeiträge
Redebeitrag des Brandenburger Flüchtlingsrats:
Wir demonstrieren hier gegen die sogenannte
Residenzpflicht für Flüchtlinge. Die Residenzpflicht ist eine
der schwersten Verletzungen eines Grundrechts in diesem Land. Residenzpflicht
oder, wie es im Juristendeutsch heißt, die räumliche Beschränkung
des Aufenthalts, das bedeutet, dass sich Flüchtlinge nur in dem Landkreis
aufhalten dürfen, dem sie zugewiesen wurden. Wollen sie Freunde oder
Verwandte in einem anderen Landkreis besuchen, müssen sie zur Ausländerbehörde
und einen Antrag stellen. Oft genug werden diese Anträge abgelehnt,
oft genug sind sie der Willkür von Sachbearbeitern ausgeliefert.
Fahren sie trotzdem, werden sie kriminalisiert, bis hin zu Gefängnisstrafen.
Schon seit vielen Jahren wurde festgestellt, was die Residenzpflicht bedeutet:
eine fundamentale Verletzung des Menschenrechts auf Bewegungsfreiheit.
Gegen dieses permanente Unrecht ist in der letzten Zeit der Widerstand
gewachsen. Berlin und Brandenburg haben Lockerungen der Residenzpflicht
angekündigt. Ab dem 20. Juli sollen sich Flüchtlinge in ganz
Brandenburg bewegen dürfen. Die Erlaubnis nach Berlin zu fahren soll,
wenn auch weiterhin auf Antrag, für sechs Monate ausgestellt werden,
ohne Angabe eines besonderen Reisezwecks.
Wir sehen darin einen Schritt in die richtige Richtung, aber es ist nur
ein erster Schritt, bestenfalls ein Zwischenschritt. Außerdem wollen
die beiden Bundesländer im Bundesrat einen Gesetzesvorschlag einbringen,
wonach Fahrten zwischen Brandenburg und Berlin auch ohne Antrag möglich
sein sollen. Auch das begrüßen wir, vor allem weil es eine
Signalwirkung auf andere Bundesländer hat. Andere Bundesländer
wie Hamburg, Bremen und Schleswig-Holstein werden dann in der Lage sein,
ähnliche Regelungen wir hier einzuführen. Im Rest des Bundesgebiets
wird sich dadurch aber nichts ändern.
Es freut uns sehr, dass endlich Bewegung in das starre Gebäude des
deutschen Asylrechts gekommen ist. Das ist nicht zuletzt ein Erfolg der
Bewegung gegen die Residenzpflicht, das ist ein Erfolg der Kämpfe
seit über zehn Jahren. Damals, im Jahr 2000, hatten selbstorganisierte
Flüchtlingsgruppen wie die Brandenburger Flüchtlingsinitiative
und The Voice eine Kampagne des Zivilen Ungehorsams gestartet. Sie erkannten
das Unrechtsgesetz einfach nicht mehr an, sie stellten keine Anträge
auf Urlaubsscheine mehr, sie nahmen sich einfach, was ihnen ohnehin zusteht.
Manche können sich noch gut an die Aktionstage im Mai 2001 erinnern,
hier in Berlin auf dem Schlossplatz, und an die machtvolle Demonstration
mit 4000 Leuten, überwiegend Flüchtlingen selbst. Niemand hatte
vorher um einen Urlaubsschein gebeten, den sie sowieso nicht bekommen
hätten.
Seit über zehn Jahren wird gegen die Residenzpflicht gekämpft.
Doch damals blieb die rotgrüne Regierung unbeweglich. Schily ließ
die Residenzpflicht sogar in eine europäische Flüchtlingsrichtlinie
schreiben, um die deutsche Praxis absegnen zu lassen.
Umso mehr hat es uns überrascht, positiv überrascht, als sich
die Brandenburger SPD letztes Jahr die Abschaffung der Residenzpflicht
auf die Fahnen schrieb. Aber wie weit wird die SPD gehen? Wird sie bei
ein paar kosmetischen Reförmchen stehen bleiben? Oder wird sie die
Chance, die sich jetzt bietet, nutzen und endlich die gesamte Residenzpflicht
auf den Müllhaufen der Geschichte werfen?
Denn jetzt, nach den Lockerungen in Berlin und Brandenburg, kommen wir
in die entscheidende Phase der Kämpfe. Die Befürworter der Residenzpflicht,
ja, es gibt sie noch. Etwa ein Herr Petke von der CDU. Selbst die Befürworter
scheinen nicht mehr an ihre eigenen Argumente zu glauben. Gebetsmühlenartig
leiern sie die alten Rechtfertigungen herunter, es gebe „arbeitsmarkpolitische,
ordnungpolitische und sozialpolitische Gründe“ für die
Residenzpflicht. Petke weiter: mit der Residenzpflicht werde die Erreichbarkeit
von Flüchtlingen sichergestellt, verhindert werde außerdem
ein Missbrauch von Sozialleistungen.
All das sind vorgeschobene Argumente. Wenn wir uns diese Rechtfertigungen
näher anschauen, dann bleibt davon nichts übrig. Sie treffen
einfach nicht zu. Es sind schlechte Ausreden, um am Bestehenden festzuhalten.
Politiker wie Herr Petke lassen sich nur ungern an die tatsächliche
Zielsetzung der Residenzpflicht erinnern. Damals, als 1982 die Residenzpflicht
in das Asylverfahrensgesetz geschrieben wurde, nahmen die Kollegen des
Herrn Petke kein Blatt vor den Mund. Sie sprachen Klartext, um was es
geht. Ich zitiere eine CSU-Abgeordneten aus einer Debatte um das Asylverfahrensgesetz
1981. Hermann Fellner, so hieß der gute Mann, sagte damals im Bundestag:
»Notwendig ist die Eindämmung der Asylantenflut. […]
Wir müssen unser Land weniger attraktiv machen […]. Es bleibt
uns keine Wahl, auch wenn in diesem Zusammenhang von verschiedenen Seiten
gemahnt wird, wir dürften Asylbewerber nicht als Abschreckungsobjekte
für potentiell anklopfende Armutsflüchtlinge mißbrauchen.«
Das ist unmissverständlich. Die Residenzpflicht und andere Regelungen
wie die Lagerpflicht, das Arbeitsverbot, Gutscheine oder Essenspakete
– das alles soll der Abschreckung von Flüchtlinge dienen, und
zwar in zweierlei Hinsicht: die Flüchtlinge, die schon im Land sind,
sollen unter so miserablen Bedingungen leben, dass sie aufgeben und ausreisen.
Und diese barbarischen Lebensbedingungen sollen sich bis zu den Flüchtlingen
in den Heimatländern herumsprechen, um sie von einer Flucht nach
Deutschland abzuschrecken. Wie es der damalige Ministerpräsident
von Baden-Württemberg ausdrückte, anlässlich der Feier
zu einjährigen Bestehens des ersten Sammellagers in Baden-Württemberg:
»[…] die Zahl der Asylbewerber ist erst gesunken, als „die
Buschtrommeln signalisiert haben – geht nicht nach Baden-Württemberg,
dort müsst ihr ins Lager“«
Die Zielsetzung der Abschreckung wurde damals in Gesetze gegossen, es
wurde ein Behördenapparat und ein Lagersystem errichtet, ein System
der Abschreckung wurde aufgebaut, das bis heute Bestand hat. Auch damals
war es wirklichkeitsfern zu glauben, Menschen, die vor Krieg und Verfolgung
fliehen, würden von Maßnahmen wie der Residenzpflicht tatsächlich
abgeschreckt. Die Abschreckungspolitiker haben ihr Ziel nicht erreicht,
was aber erreicht wurde, ist ein System, in dem einer Gruppe von Menschen
systematisch und mit unerbittlicher Gründlichkeit Menschenrechte
vorenthalten werden. Die mit der Residenz- und Lagerpflicht gezwungen
werden, in der Isolation zu leben, in abgelegenen Dschungelheimen im Wald,
ja nicht zu leben, sondern zur Untätigkeit verdammt vor sich hin
zu vegetieren. Oder die zu Straftätern gemacht werden, wenn sie sich
für das Leben entscheiden und den Lagern entfliehen.
Was geschaffen wurde, ist ein System eines institutionellen Rassismus.
Eine Kreis von Menschen wird zu Unerwünschten erklärt und ausgegrenzt.
Das betrifft nicht nur die Flüchtlinge selbst. Das hat Auswirkungen
auf die Gesellschaft als Ganzes. Der gesamten Gesellschaft wird eine stigmatisierte,
kriminalisierte Bevölkerungsgruppe vorgeführt. Der institutionelle
Rassismus produziert auch den ganz gewöhnlichen Rassismus.
Wir sagen: das muss aufhören. Mit der Politik der Abschreckung, mit
dem strukturellen Rassismus muss es einen Bruch geben. Es geht nicht um
kosmetische Reförmchen an der Residenzpflicht, es geht um einen Bruch
mit einer Politik, die damals die Menschenrechte von Flüchtlingen
missachtete und dies heute noch tut. Bei einer so wichtigen Frage kann
es keine faulen Kompromisse geben, hier kann es kein Taktieren geben,
was gerade durchsetzbar ist. Auf der Tagesordnung steht die generelle
Abschaffung der Residenzpflicht, nicht nur Lockerungen und Erweiterungen.
Wir sind zuversichtlich, dass diese Abschaffung kommt. Die SPD kann hier
ihren Beitrag leisten. Wir werden sie genau im Auge behalten!
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